Henrik Müllers Plädoyer für einen deutschen Staatsfonds

Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund und veröffentlicht regelmäßig bei Spiegel Online eine Kolumne. Am 19.11.2017 (Fonds national) plädierte er für die Auflage eines deutschen Staatsfonds, in den deutsche Budgetüberschüsse fließen sollten. Mit seinem Vorschlag entlarvt er sich als völlig uninformiert über gesamtwirtschaftliche (makroökonomische) Gesichtspunkte und als Vertreter einer schlichten einzelwirtschaftlichen Perspektive, wie sie gemeinhin mit dem Verweis auf die schwäbische Hausfrau gekennzeichnet wird.

Welche Argumente führt Müller an? Er diagnostiziert zu Recht das Vorliegen deutscher Haushaltsüberschüsse. Diese führt er auf eine Sondersituation zurück, die ihm zufolge nicht in großen Rohstoffexporten oder dem Devisenankauf zwecks Herbeiführung einer künstlichen Währungsunterbewertung zu suchen sind. Er hält sie vielmehr für ein „Resultat von Sonderfaktoren“: Die von der EZB wegen der wirtschaftlich schwachen Euro-Länder herbeigeführten niedrigen Zinsen und der billige Euro schiebe die deutsche Konjunktur an und sorge im Verein mit einer millionenfachen Zuwanderung aus anderen EU-Ländern für einen rekordhohen Beschäftigungsstand, der die Kassen der Sozialversicherungen entlastet. Müller sieht konjunkturelle Überhitzungssymptome, deren Fortdauer „noch über Jahre“ bei Erhalt des derzeitigen Szenarios  er annimmt. Er warnt aber vor einem Ende dieses Zustandes, das er durch die „demographische Entwicklung (…) ab dem kommenden Jahrzehnt“ hervorgerufen sieht.

Müller sieht vier Varianten für den Umgang mit den Überschüssen: 1. Ausgabenerhöhungen, 2. Steuersenkungen, 3. Schuldentilgung, 4. Vermögensaufbau. Vor der ersten und zweiten Option warnt er, weil er in ihnen einen Anschub zu einer konjunkturellen Überhitzung sieht. Er plädiert vielmehr für die vierte Variante – in Form eines deutschen Staatsfonds – weil er diese Variante angesichts der niedrigen Zinsen für Staatsschulden für profitabler hält. Damit würde der Entlastung kommender Generationen sogar noch besser gedient als mit einer Schuldentilgung.

Was ist von Müllers Diagnose zu halten? Wir haben an der Jahreswende 2017/18 zwar die niedrigste Arbeitslosenquote seit der Vereinigung, sind aber von Arbeitslosenquoten aus den 70ern des vergangenen Jahrhunderts meilenweit entfernt. Und die Entlastung der Sozialkassen lässt sich schlecht als Überhitzung ausgeben. Müller nennt Bau und Export, Branchen, die in Deutschland sicherlich von der EZB-Politik profitieren. Für eine Überhitzung bräuchte es aber mehr, z. B. in der Lohn- und in der Preisentwicklung. Müller kommt nicht auf den Kern der Ursachen für den deutschen Exporterfolg, der zu dem fortdauernden riesigen Leistungsbilanzüberschuss geführt hat: der Lohnzurückhaltung ab dem Zeitpunkt, von dem ab die Partner in der Eurozone sich nicht mehr durch Abwertung wehren konnten. Letztlich dient Müllers Diagnose von konjunkturellen Überhitzungssymptomen nur der Zurückweisung von Ausgabeprogrammen beispielsweise für Infrastruktur oder Bildung, wie sie vielfach zu Recht gefordert werden.

Müller spricht von „überraschend sprudelnden Einnahmequellen“, wenn er den Budgetüberschuss meint, den er in einen Staatsfonds fließen lassen will. Die oberflächliche Beurteilung der Konjunktur kann man als unbedeutend abtun, das eigentliche Ärgernis liegt in dem unsäglichen Vorschlag dieses Staatsfonds.

  1. Müller weiß nichts von der makroökonomischen Position des Staates und den damit verbundenen Aufgaben.
  2. Er missversteht die Staatsverschuldung als Belastung nachrückender Generationen.
  3. Er hat einen einzelwirtschaftlichen Blick auf das Problem der Daseinsvorsorge, wenn es um Daseinsvorsorge als Staatsaufgabe geht.
  4. Er will den Staat in das Finanz-Casino schicken, damit er es dort den Spekulanten gleichtut.
  5. Er hält die Augen verschlossen gegenüber der deutschen Austeritätspolitik, die einerseits „überraschende sprudelnde Einnahmequellen“ bewirkt, aber andererseits die Existenzgrundlage der Euro-Zone erodiert.

Zu 1.: Die Wirtschaftssektoren Unternehmen, Staat, Private und Ausland verwenden das Bruttoinlandsprodukt. Wenn ihre Verwendung nicht wertgleich mit ihrem jeweiligen Einkommen ist, entsteht ein Saldo. Ein negativer Saldo eines Sektors, mehr Verwendung als Einkommen, ist immer durch einen oder mehrere positive Salden anderer Sektoren ausgeglichen, Verschuldungspositionen also immer durch Gläubigerpositionen. Ein Staat, der mehr einnimmt als er ausgibt, ist in einer solchen Gläubigerposition, die eine entsprechende Verschuldung anderer Sektoren nötig hat. In Deutschland sparen alle inländischen Sektoren, die Gegenposition hält das Ausland mit negativer Leistungsbilanz.

Diese einfache saldenmechanische Betrachtung zeigt schon, dass der Vorschlag Müllers von der Fortdauer einer makroökonomischen Imbalance abhängig ist, die zudem den Euro bedroht und die Grundlagen der Handelsbeziehungen auch zu Staaten außerhalb der Eurozone in Frage stellt, wie es jetzt an der Gegenwehr der USA zu studieren ist.

Zu 2.: Müller will eine „günstige“, in Wirklichkeit aber gefährliche Situation nutzen, künftige Generationen durch den Fonds zu entlasten, den er der Staatsentschuldung wegen der höheren Rendite gegenüber der Verzinsung von Staatspapieren den Vorzug gibt. Müller wäre ein schlechter Notar: Er sieht nur die Vererbung der Staatsschulden, aber nicht die zugehörige Gegenposition, dass auch die Geldforderungen an den Staat in gleichem Zug vererbt werden. Es gibt durch Staatsverschuldung schlicht keine Generationenbelastung, Schuldner und Gläubiger befinden sich immer in einer Generation, die Verbindlichkeiten und Forderungen saldieren immer auf Null. (Vgl. Artikel Staatsschulden)

Zu 3.: Staatliche Daseinsvorsorge ist immer realwirtschaftlich. Sie sorgt für Infrastruktur und Bildung. Sie sorgt mit einer guten Wirtschaftspolitik für Wachstum des Kapitalstocks und Produktivitätsfortschritte. Wer nach der Finanzkrise noch glaubt, dass stattdessen der Gang ins Casino in der Erwartung besonderer Profite Daseinsvorsorge sein kann, ist mit spezieller Blindheit geschlagen.

Zu 4.: Wenn neben allen Akteuren, die jetzt schon das Finanz-Casino füllen, ein zusätzlicher, deutscher Staatsfond dort auftritt, könnte das durchaus zu einem weiteren Anstieg der Asset-Preise beitragen, zur Freude der dort „investierten“ reichen Minderheit. Der Kauf von Aktien oder anderer Papiere ist ja keine realwirtschaftliche Investition in Gebäude, Maschinen und Löhne. Vorhandene Papiere werden gegen Geld getauscht, zumeist gegen mehr Geld, das dann auf der Suche nach anderen Assets ist. Die damit verbundene Ausweitung des Umfangs der „Finanzindustrie“ trägt sicherlich nicht zur wirtschaftlichen Stabilität bei, wahrscheinlich aber zur Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung.

Ein Staat, der über eine eigene Zentralbank verfügt, könnte grundsätzlich unbegrenzt Assets aufkaufen (sofern sie in der heimischen Währung angeboten werden), schließlich kann die Zentralbank dafür Geld in unbegrenzter Menge zur Verfügung stellen. Das ist für jeden Laien an der QE-Politik der EZB zu beobachten, die damit in der Eurozone die langfristigen Zinsen drückt, indem sie eine schier unvorstellbar große Menge an Staatspapieren gekauft hat. Budgetüberschüsse wären dafür nicht notwendig. Wenn man die vermeintliche Cleverness von Müller, Budgetüberschüsse statt für Entschuldung des Staates für den Ankauf von Aktien oder anderen Wertpapieren zu nutzen, auf die Spitze treiben wollte, könnte man auch sagen: Warum nicht beides? Oder wir lassen die Schuldenbremse fahren und nutzen neue Staatsschulden nicht für die Reparatur von Brücken sondern für den Ankauf von Papieren.

Zu 5.: Deutschland hat den hohen Beschäftigungsstand erreicht, weil es seine Arbeitslosigkeit exportiert hat. Das Ausland – soweit es mit negativem Leistungsbilanzsaldo zum deutschen Überschuss die Schuldenposition hält – hat nicht nur Waren und Diemnstleistungen auf Pump importiert, es hat auch ein Stück Arbeitslosigkeit importiert. Für die Vergütung der importierten Werte wurden dort keine Werte produziert, die im Austausch nach Deutschland geliefert wurden. Das Brummen des Exportsektors in Deutschland und die Entlastung in den Sozialkassen durch die Beiträge aufgrund der zusätzlichen Beschäftigungsverhältnisse und die damit verbundenen zusätzlichen Steuereinnahmen beruhen darauf, dass in Deutschland Lohnzurückhaltung staatliche Politik war, dass sich Deutschland damit eine Wettbewerbsposition auf Kosten der Partner erschlichen hat, und damit die Grundlage des Euro in Frage gestellt hat. Eine nachhaltige Wirtschaftspolitik sieht anders aus.

Müllers Logik zufolge könnte der deutsche Staat seine Austeritätspolitk verschärfen, um einen höheren Budgetüberschuss zu bewirken, um angeblich den Nachgeborenen mehr zu überlassen. Der Staat ist aber kein privater Erblasser, der moderat konsumieren und seine Ersparnisse zusammenhalten soll, um seinen Nachfahren die Werte zu übergeben. Der Staat soll im besten Fall die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass eine solche private Bemühung erfolgreich ist, dass eine besser gebildete Nachkommenschaft eine intaktere Infrastruktur, eine heilere Umwelt und  leistungsfähigere Produktivkräfte vorfindet und nicht etwa stattdessen einen Staatsfond, dessen Werthaltigkeit den Wechselfällen die „Finanzindustrie“ ausgeliefert ist.

Ist Müllers Vorschlag eines deutschen Staatsfonds mit dem norwegischen oder dem chinesischen Staatsfond vergleichbar?

Nein. Müllers deutscher Fonds soll aus den staatlichen Budgetüberschüssen gefüttert werden, aus der positiven Differenz Steuereinnahmen minus Staatsausgaben. Norwegen kann mit den Einnahmen aus gefördertem Öl auf dem Weltmarkt Aktien und Wertpapiere kaufen. Norwegen hat zur Zeit keine sinnvolle Verwendung für weitere Ausgaben. Brücken und Straßen, die so wenig Verkehr aufweisen, dass Wohnmobilisten am Straßenrand campieren, sind gut geteert und in Schuss. Norwegen verwandelt die Dollar- oder Eurozuflüsse  wie China in Aktien oder Staatspapiere. Norwegen hat einen um etwa drei Prozentpunkte niedrigeren positiven Leistungsbilanzsaldo als Deutschland, Chinas Werte liegen noch unter denen von Norwegen. Der exorbitante positive deutsche Leistungsbilanzsaldo  (zumindest soweit er sich auf den Euroraum bezieht) eignet sich aber nicht zur Verwandlung in irgendwelche Assets aus dem Finanz-Casino. Er läuft zur Buchungsgröße einer TARGET2-Forderung an das Eurosystem auf, die als Gegenposition für die Sichtguthaben deutscher Geschäftsbanken bei der Bundesbank bilanziert ist. Die Bundesbank hat deshalb keinen Überschuss erzielt, der sich in einen Fonds einbringen ließe. Selbst die Umwandlung einer Forderung der Bundesbank an das Eurosystem in ein Wertpapier, das in der spanischen oder französischen Zentralbank einen Zentralbankkredit besichert, wäre nur eine bedeutungslose Umbuchung im Eurosystem.