„Der Eroberer ist immer friedliebend (wie Bonaparte auch stets behauptet hat), er zöge ganz gern ruhig in unseren Staat ein;“
Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Zweiter Teil, Fünftes Kapitel: Charakter der strategischen Verteidigung
Si vis bellum, para pacem!
römische Weisheit, neu interpretiert
Es ist die Herausforderung der Politik, ob demokratisch gewählt oder autokratisch, zum Erhalt der eigenen Macht die Gefühlsbedürfnisse des Volkes zu bedienen, im Übrigen aber unter Ausschluss der Gefühle die tatsächliche Lage und die eigenen Handlungsoptionen zur Kenntnis zu nehmen, um für den eigenen Wirkungsbereich das Beste herauszuholen. Glücklich die Völker, deren Politiker im Interesse ihrer gesamten Gesellschaft und nicht lediglich für kleinere Gruppen, ethnische Teilgruppen, Oberschichten oder gar nur engere Machtzirkel tätig sein wollen.
Im Anschluss an den Waffenstillstand zum Ende des ersten Weltkrieges, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, galt es Frieden zu schließen. An den Verhandlungen zum Friedensschluss war Deutschland aber gar nicht beteiligt. Dem Deutschen Reich wurde keine Wahl gelassen. Es hatte die Beschlüsse von Versailles zu akzeptieren. J. M. Keynes, der im Stab der britischen Delegation tätig war und seine Aufgabe angewidert niederlegte, qualifizierte das Ergebnis von Versailles in seinem Buch Revision des Friedensvertrages (S. 1) als „einen Friedensvertrag, der nicht gerade klug war, der teilweise unausführbar war und das Leben Europas gefährdete.“ Keynes war desillusioniert zu folgender Einschätzung der Politik gekommen:
„Es ist die Art moderner Staatsmänner, so viele Torheiten auszusprechen, wie das Volk verlangt, und nicht mehr davon in die Praxis umzusetzen, als sich mit dem, was sie gesagt haben, verträgt, in der Erwartung, daß die als Folge der gesagten Torheiten geschehenen Handlungen sich bald als Torheiten herausstellen und ihnen eine Gelegenheit geben, zur Weisheit zurückzukehren, — die Montessori Methode der Erziehung des Kindes Volk genannt. Wer diesem Kinde widerspricht, muß seinen Platz bald wieder anderen Lehrern einräumen. Man lobe deshalb die Schönheit der Flammen, nach welchen es greifen will, die Musik des zerbrechenden Spielzeuges; ja, man sporne es noch an; und warte trotzdem als kluger und väterlicher Retter der Gesellschaft mit wachsamer Sorge auf den richtigen Augenblick, um es zurückzureißen, nachdem es sich gerade die Finger verbrannt hat und daher nun ganz Ohr ist.“ (S. 1)
Revision des Friedensvertrages (S. 1)
Die Auflagen des Versailler Friedensvertrages erfuhren später einige Revisionen. Die zweite Großkatastrophe des 20. Jahrhunderts trat dennoch ein.
Die derzeitigen Kriegshandlungen sind die Periode vor den kommenden, unvermeidlichen Friedensverhandlungen zwischen den USA und Russland, den entscheidenden Kriegsparteien im asymmetrischen Teil-Stellvertreter-Krieg. Für welche Seite ein besseres Ergebnis vor dem Krieg zu erzielen gewesen wäre, muss reine Spekulation bleiben. Ebenso wann beide Parteien gleichzeitig bereit sind, in ernsthafte Verhandlungen zu treten.
Falls sich Politiker zur Erreichung ihrer Ziele für Krieg entscheiden, sind sie gut beraten, sich des Zynismus ihrer Militärs zu bedienen. Bei zynisch-militärischer Beurteilung der Lage unter völligem Ausschluss der Gefühlsebene wäre die überwältigende Mehrheit der Kriege wohl unterblieben. Zu den größten Gefahren gehört die falsche Beurteilung der Lage vor dem Krieg, insbesondere die der eigenen Fähigkeiten und der Kräfte und Bereitschaft der Feinde, häufig weil Wünsche oder Gefühle der obersten Entscheider ihnen einen Streich spielen.
Kriegsparteien und ihre Interessen
Die USA, zwar nicht im völkerrechtlichen, aber durchaus faktisch Kriegspartei, hat wesentliche Kriegsziele schon erreicht. Sie haben die Westeuropäischen Staaten der Nato hinter sich versammelt. Eigene Kosten dieses Krieges sind viel geringer als die der europäischen Vasallen. Geradezu ein Hauptgewinn für die Amerikaner ist die Kehrtwende der deutschen Energiebeschaffungs- und Verteidigungspolitik. Deutschland als Kriegspartei auf beiden Seiten: Immer noch Finanzier der russischen Seite durch den Kauf der fossilen Energieträger will es den Bezug russischen Öls und Gases reduzieren und so immense Einkommensverluste hinnehmen; auf der anderen Seite hat es die bisherige Staatsdoktrin der Nicht-Weitergabe von Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete im Handumdrehen verschrottet. Beides geschah nicht etwa aufgrund kühler (zynischer) Abwägungen der deutschen Interessen, schon gar nicht eingebettet in demokratische Diskussionen und Entscheidungsfindung, sondern in einer als immensen Druck empfundenen Situation bei den Verantwortungsträgern der obersten Exekutive. Das geplante riesige Aufrüstungsprogramm ist der dritte Bruch der bisherigen Politik. Der höhere Staatsverbrauch wird zwar zum einen Teil inländisches Konjunkturprogramm, zum anderen leichte Senkung des deutschen Leistungsbilanzüberschusses sein. Ein Schaden ist aber schon dadurch zu befürchten, dass das Ausgabenprogramm die Vorhaben zur Minderung der Klimakatastrophe belasten können. Geradezu bizarr ist der gemeinsame Selbstbetrug von Wahlvolk und Regierung mit der Finanzierungtechnik in einem Extra-Haushalt, der hier plötzlich im Gegensatz zum Klimaprojekt möglich sein soll, nur um die deutsche Haushalts-Ideologie aufrecht zu erhalten. Auf Dauer werden die Bestandhaltungskosten einer viel teureren deutschen Streitkraft nicht ohne Belastung der Einkommen der privaten Haushalte zu tragen sein.
Bilanz der Kriegsführung
Wie ist die bisherige Bilanz der russischen Kriegsführung? Russland hat auf die Fortführung seiner bisherigen Drohhaltung verzichtet und sie durch tatsächliche Kriegführung in der Ukraine abgelöst. Es hat gegenüber den USA dadurch bislang nichts gewonnen. Es hat Geländegewinne, aber um welchen Preis? Die russische Führung muss zur Kenntnis nehmen, dass der ursprüngliche Kriegs-Plan unrealistisch war und sich ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung nicht befreien lassen will, ein beträchtlicher Teil sogar zum aktiven Kampf gegen die Invasoren bereit ist. Die Aussichten sind recht düster: Man wird sich hohe Kosten der Besatzung und schmerzliche Einkommensverluste durch Sanktionen eingehandelt haben. Für das strategische sicherheitspolitische Ziel, an seiner Westgrenze gegenüber der Nato eine große Pufferzone zu erreichen, ist Russland überhaupt nicht vorangekommen, im Gegenteil.Die Bilanz auch der Ukraine ist düster: Die Zerstörungen der Infrastruktur, die immense Fluchtbewegung, das Zerreißen der Familien, wobei die Mütter mit ihren Kindern nicht wissen, ob sie Vater und Ehemann wiedersehen werden. Der von Russland, den USA und Westeuropa mit großer Überraschung wahrgenommene ukrainische Widerstand gegen den Aggressor hat die russische Angriffswelle bisher stark abgebremst. Die Ukraine erreicht damit ein höchst zwiespältiges Ergebnis: Sie erfährt aus dem Westen Unterstützung, vor allem mit veralteter Militärtechnologie, die aber durchaus dabei helfen kann, den russischen Feldzug weiterhin auf einem von den Feinden höchst unerwünschten Tempo zu halten. Dadurch verlängert sich die Dauer des Krieges, die Zahl menschlicher Opfer wird steigen, der Schaden im ukrainischen Sachvermögen wird außerordentlich wachsen. Darüber, dass die russische Invasion militärisch zu einem Sieg über die ukrainische Seite führen wird, ohne dass Russland in seinen Kriegszielen gegenüber der USA damit weitergekommen wäre, herrscht allerdings bei keinem mir bekannten Militärexperten der geringste Zweifel. Was die Ukraine aber zweifellos gewonnen hat, ist die Anerkennung für ihren Widerstand und das Mitgefühl und die Sympathie in einem beträchtlichen Teil der Weltöffentlichkeit. Aber an der klaren Absicht, auf keinen Fall direkt auf dem Boden oder im Luftraum der Ukraine Kriegspartei zu werden, hat sich bei den NATO-Staaten nichts geändert.
Vorteile der USA, Schaden der Ukraine?
Öffentliche Verlautbarungen der Kriegsgegner, zu denen neben den schießenden Parteien auch die jeweils nur helfenden Parteien, an erster Stelle aber die USA gehören, sind keine ernsthaften Vorbereitungen von Friedensverhandlungen. Daher lässt sich kaum beurteilen, wie weit Russland und die USA schon wirklich bereit sind, von den Kriegshandlungen – für die USA sind es Unterlassungshandlungen – abzulassen und zu verhandeln. Die beiden Seiten werden einschätzen müssen und werden mit vielleicht unterschiedlichem Realismus einschätzen, mit welchem Verhalten sie welche Gewinne und Kosten einfahren werden. Ein Zögern der USA könnte mit einer Spekulation auf eine fortlaufende Verschlechterung der Positionen von Russland verbunden sein, umso mehr wie das russische Militär sein Vorgehen brutalisiert. Die unmittelbaren Nachteile wird die Ukraine zu tragen haben, für die die USA selbstverständlich mit dem Finger auf Russland zeigen können. Es fällt mir schwer, für die russische Seite in einer Fortführung der Kampfhandlungen anstelle eines Waffenstillstandes mit sofortigem Stopp der westlichen Waffenlieferungen und jederzeit möglicher Wiederaufnahme des für Russland rein militärisch immer noch zu gewinnenden Kampfes eine Vorteilschance zu sehen. Deshalb werden auch von vielen Experten Zweifel an der russischen Fähigkeit zu zynischer (realistischer, nicht gefühlsgeleiteter) Analyse der eigenen Lage und Möglichkeiten geäußert.
Müssen wir Russland-Versteher sein?
Es liegt vor allem nicht im deutschen Interesse, Russland auf unbestimmte Dauer nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich einzuhegen und damit zu schädigen. Wer Frieden will, muss Russland-Versteher sein, schon allein deshalb, weil auch Russland-Versteher sein muss, wer gegen Russland militärisch oder wirtschaftlich Kriegspartei sein will. Ein Friedensvertrag ist nur möglich, wenn beide Parteien vom Versuch eines kriegerischen Interessensausgleichs ablassen zugunsten eines solchen Ausgleichs durch Verhandlungen und Kompromiss.
Wie könnte ein solcher Friedenschluss aussehen
Wie könnte ein solcher Friedenschluss aussehen: Russland zieht sich vollständig aus der Ukraine zurück. Russland erhält wieder unbeschränkten Zugang zur Weltwirtschaft und zum Weltfinanzsystem unter Wegfall aller Sanktionen. Es darf z. B. auch an Deutschland unbelastet durch irgendwelche Einsprüche Dritter fossile Energieträger, auf welchem Weg auch immer, verkaufen. Russland erhält einen Sicherheitspuffer durch eine völlig demilitarisierte Ukraine, für die der Westen den Beitritt zur NATO für alle Zukunft ausschließt. Die Annektion der Krim durch Russland wird anerkannt. Die vor dem Krieg von Rebellen gehaltenen Gebiete können ihren Status in einer von der UNO überwachten Abstimmung frei entscheiden.
Die Sicherheit und die territoriale Integrität der Ukraine wird von Russland, den USA und allen NATO-Staaten, u. U. auch von China garantiert. Bis auf weiteres werden die Grenzen durch Blauhelmsoldaten gesichert. Es finden Wahlen unter Aufsicht der UNO statt. Die Ukraine kann souverän entscheiden, ob sie Mitglied der EU und schließlich auch des Euroraums werden will.
Russland beteiligt sich an den Kosten des Wiederaufbaus der Ukraine und gewährt für eine bestimmte Zeit die Lieferung fossiler Energieträger zu bevorzugten Konditionen. Die Ukraine liefert der Krim eine definierte Wassermenge/Jahr.
Deutschland wäre der große Gewinner dieses Friedens. Der wirtschaftlichen Kooperation mit Russland wäre zum Nutzen beider Seiten Tür und Tor geöffnet. Nordstream 2 würde in Betrieb genommen. Deutsche Investitionen in Russland wären möglich. Deutsche Aufrüstungsprogramme würden weitgehend überflüssig. Die Klimapolitik könnte wieder Platz Eins einnehmen.
Die Ukraine wäre auch Gewinner. An die Stelle einer russischen Besetzung mit einer fürchterlichen Unterdrückung jeglicher Regung souveräner Bestrebungen auf unbestimmte Zeit würde ein vom Westen finanziertes Wiederaufbauprogramm mit der Perspektive eines EU-Beitrags treten. Wegfallende Militärausgaben würden für die Ukraine die fehlenden Durchleitungsumsätze kompensieren. Die Ukraine müsste allerdings auf die Illusion der völligen Souveränität verzichten.
Russland wäre der eigentliche Verlierer. Die Krim bliebe ein dauernder Kostenfaktor. Eine prosperierende Ukraine mit konkreter Aussicht eines EU-Beitritts würde dazu führen, dass der Pro-Kopf-Anteil am Bruttosozialprodukt in der Ukraine den in Russland überholen würde. Der Siegeszug der Wind- und Sonnen-Energie-Gewinnung wird zudem den russischen Export belasten – schneller als es vor dem Krieg zu erwarten gewesen war.
Wie wahrscheinlich ist die Lösung?
Was für diese Lösung spricht: Russland kann sich ein wenig als Sieger empfinden und den Kriegsschauplatz im Gefühl der Teil-Ziel-Erreichung verlassen.
Was gegen diese Lösung spricht: Die USA würden auf einen Teil ihrer schon erreichten Kriegsziele wieder verzichten müssen. Hier zeigt sich der partielle Interessengegensatz zwischen Deutschland und den USA, der im Rahmen der jüngsten Entwicklung durch partiellen deutschen Souveränitätsverzicht gekittet ist.
Was diesen Friedensschluss unwahrscheinlich macht: Die öffentliche Meinung in der westlichen Welt ist von einem so großen antirussischen Gefühl dominiert, dass westliche Politiker es schwer hätten, diese Lösung ihren Wahlbürgern zu verkaufen. Welche Antwort könnten die westlichen Politiker auf die Frage geben, warum sie nicht versucht haben mit dieser Lösung den Krieg zu vermeiden?
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