Der große amerikanische Evolutions-Biologe E. O. Wilson hat sich in seinem Buch „Die soziale Eroberung der Welt“ auch dem Krieg gewidmet. Die Evolution vom Australopithecus bis zum Homo sapiens auf der Ebene des Individuums mit seinem Egoismus und im widersprüchlichen Wechselspiel auf der Ebene der Gruppe, die mit der altruistischen Orientierung des Individuums ihren evolutionären Erfolg feiert, schließt die Bejahung des Krieges nicht aus – im Gegenteil: Zum evolutionären Erfolg der Gruppe gehörte auch immer ihre Verteidigungs-Bereitschaft und -Fähigkeit, die sich kaum von einer Angriffs-Bereitschaft und -Fähigkeit abgrenzen lässt. Diese Bereitschaft ist von den Emotionen getragen, die in der kriegerischen Auseinandersetzung befeuert werden. Wir identifizieren uns als Mitglieder einer Gruppe des Westens, zu der wir jetzt vor allem die Ukrainer zählen. Wir bewundern ihre Tapferkeit und sind zu unterschiedlichsten Aktionen der Unterstützung bereit. Wir ändern im Handumdrehen unsere Politik der Nichtweitergabe von Waffen in Krisengebiete. Wir opfern das, was wir bisher immer für unabdingbare Notwendigkeit staatlicher Budgetpolitik ausgegeben haben, eine Politik, die wir noch nicht einmal zur Milderung der Klimakatastrophe aufgeben wollten. Jetzt werden Forderungen immer dringender, nicht nur durch Waffenlieferungen in den Konflikt einzugreifen, sondern mittels Durchsetzung einer Flugverbotszone auch direkt in die Kämpfe einzugreifen. Das wirkt wie eine Bestätigung der Thesen des Evolutions-Biologen. Unser Gefühl sagt: Wir müssen zurückschlagen, wir sind zu großen Opfern bereit, wir dürfen unsere tapferen Brüder und Schwestern nicht alleine kämpfen lassen. Die politische ebenso wie die militärische Führung ist dagegen gut beraten, sich nicht von den evolvierten Impulsen leiten zu lassen. Politik, mit konventionellen ebenso wie mit den Mitteln des Krieges geführt, bedarf der kühlen, „zynischen“ Abwägung, um nicht das gemeinsame Verderben zu befördern. Deutschland hat in der gegenwärtigen Lage keine großen eigenen Spielräume. Es hat einige seiner vorteilhaften ökonomischen Optionen eingebüßt und steht unter dem Druck, weitere Interessen fahren zu lassen. Eigene militärische Optionen bestehen gar nicht. Deutschland kann mangels Masse keine eigenen Waffen mehr liefern. Es kann höchsten für die Proliferation anderen Staaten Waffen abkaufen.
Grünes Licht für die Invasoren?
Mit der russischen Invasion der Ukraine musste Deutschland schlagartig gewahr werden, dass es versäumt hatte, für die sicherheitspolitische Absicherung seiner wirtschaftlichen Interessen zu sorgen. Eine solche Absicherung wäre nur im Verbund mit seinen befreundetet Staaten möglich gewesen, die ihrerseits dem deutschen Bezug russischer Energieträger mehr als skeptisch gegenüberstanden. Diese Absicherung hätte auch eine Lösung für die Ukraine mit einschließen müssen. Die NATO unter amerikanischer Führung hat immer ihr Nicht-Eingreifen verkündet und die „rote Linie“ als Außengrenze der östlichen Nato-Staaten kommuniziert. Russland hat dies vollkommen richtig so verstanden, dass sich die NATO dem russischen Einmarsch in die Ukraine nicht aktiv militärisch entgegenstellen würde.
Maßnahmen ohne Wirkung?
Ich kann auch nicht erkennen, dass der Westen unter der Führung der USA Russland mit einem Verhandlungsangebot soweit entgegenkommen wollte, dass Russland auf die Invasion verzichtet hätte. Ob Russland ein solches Verhandlungsangebot unter den Bedingungen des verkündeten Gewaltverzichts der NATO überhaupt hätte ausreichend wertschätzen können, kann nun nicht mehr geklärt werden. Die Androhung nicht-militärischer Maßnahmen des Westens gegen Russlands Invasion waren jedenfalls wirkungslos, der Vollzug dieser Maßnahmen bislang auch. Wenn im Westen von einer Wirkung der Maßnahmen gesprochen wird, ist damit immer nur eine Schädigung russischer Interessen gemeint, die zweifellos immer eintritt wie ebenso eine Schädigung bei uns selbst. Eine Wirkung als Ablassen von dem Versuch der militärischen Interessendurchsetzung durch Russland, was der eigentliche Maßnahmenzweck wäre, ist jedenfalls nicht zu erkennen.
Welche Kriegsziele bleiben für die Invasoren?
Der Westen ist wohl nicht weniger als die russische Führung selbst vom zähen Widerstand der Ukraine überrascht, der auch befördert durch die westliche Waffenhilfe (im weitesten Sinne) zu einem Zustand geführt hat, der den Invasoren nur wenig Aussicht auf relevante Geländegewinne gewährt. Überhaupt ist nur schwer zu erkennen, was derzeit noch als bedeutende, erreichbare Kriegsziele für die Invasoren übrigbleiben könnte, für die ihr Kampf wirklich lohnenswert wäre. Mit der Taktik, die das russische Militär in Grosny und Aleppo angewandt hatte, könnte es allerdings den ukrainischen Widerstand erfolgreich brechen.
Wann kommt die westliche Friedensinitiative?
Was muss in einer solchen Situation noch geschehen, dass vom Westen eine ernsthafte, große Friedensinitiative ausgeht, die aber keinen Erfolg haben würde, wenn nicht auch die russische Seite den Frieden als einen Erfolg für sich verbuchen könnte? Dazu müsste der Westen einschließlich der Ukraine bereit zu Zugeständnissen sein. Stattdessen werden in Deutschland Stimmen laut, die eine „Flugverbotszone“ fordern, wahrscheinlich ohne genau zu wissen, was das eigentlich ist, und ohne sich klarzumachen, dass diese Forderung die USA-Administration adressiert, die aber ihrerseits in dieser Frage keine Beweglichkeit zeigt. Weil man in Deutschland hier nicht weiterkommt, kann man sich auch in Selbstvorwürfen ergehen, dass die eigene Volksvertretung nach der mit viel Beifall aufgenommenen Rede des ukrainischen Präsidenten zu Tagesordnung übergegangen ist, anstatt etwas „Würdevolles“ zu begehen.
Was würde die Flugverbotszone bedeuten?
Die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine durch die NATO wäre der unmittelbare aktive Kriegseintritt der NATO gegen Russland. Das Aussprechen eines Verbotes ist nur soviel wert wie die Bereitschaft und Fähigkeit seiner Durchsetzung. Es wäre ein enormer Kraftakt für eine Staatsfläche der Ukraine, die größer ist als die Fläche Frankreichs. Eine große Zahl von Kampfflugzeugen, Tank- und Aufklärungsflugzeugen müssten fortwährend in der Luft sein. Der logistische Background am Boden müsste wirkungsvoll geschützt werden können. Ohne die Bereitschaft der NATO, auch Kampfstellungen auf russischem Boden zu zerstören, von denen die Verletzung des zu schützenden Luftraumes ausginge, durch Flugzeuge oder Raketen, wäre die Verbotszone nicht wirklich umzusetzen. Diese Maßnahme würde der bisherigen, immer wieder klar kommunizierten Position der NATO direkt widersprechen.
Würde die Androhung helfen?
Die Einrichtung einer Flugverbotszone durch die NATO wäre eine eminente Eskalierung des Konfliktes des Westens mit Russland ohne die Sicherheit, dass Russland die Auseinandersetzung auf dieser Ebene nicht annähme. Selbst wenn es zunächst bei einer bloßen Androhung dieser Flugverbotszone bliebe mit der eindeutigen Beschreibung, unter welchen Umständen sie umgesetzt würde, wäre fraglich, ob damit einer starken Friedensinitiative, die von einem vorgängigen Waffenstillstand und dem Stopp der westlichen Waffenhilfe und der russischen Verstärkung der eigenen Stellungen begleitet sein müsste, nicht ein Bärendienst erwiesen wäre. Eskalieren kann später immer noch, vorausgesetzt man hat sich ausreichend vorbereitet und will es wirklich.
Was können die Deutschen tun?
Flüchtlinge aufnehmen, das haben wir geübt. Schon werden erste Stimmen laut, die die Verstärkung des deutschen Arbeitsmarktes begrüßen, vorausgesetzt wir versorgen die vielen Mütter mit vernünftiger Kinderbetreuung, so dass diese Mütter wirklich für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Das hat aber auf die Fortdauer des Krieges in der Ukraine ebenso wenig Auswirkung wie der Wechsel der Potentaten, bei denen wir unser Erdgas beziehen wollen. Deutschland müsste versuchen zusammen mit Frankreich und am besten auch mit Großbritannien, die USA zu einer echten Friedensinitiative zu bewegen. Ansonsten sind wir eher Figuren, die bewegt werden und nicht etwa selber Beweger.
„The Moral Equivalent of War“
E. O. Wilson hat in seinem Buch auf William James und seinen Text „The Moral Equivalent of War“ von 1910 Bezug genommen und aus ihm zitiert. Er nannte ihn einen Aufsatz gegen den Krieg, der „wohl der beste ist, der je zu diesem Thema geschrieben wurde.“ (Die soziale Eroberung der Erde, S 81) Ich hänge ihn hier – auch in deutscher Übersetzung – an.
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