Die „erschreckend“ hohe Zahl einer Billionen Euro an Targetforderungen, die angeblich für Deutschland im Feuer stehen, drohende Verluste für Deutschland, ein drohender Griff in die Taschen der Steuerzahler! Das Thema hat zur Zeit Konjunktur in der Medienlandschaft. Für den ersten und unbedarften Blick scheinen die Alarmrufer um deutsche Interessen besorgt. Dabei korreliert der Grad der Aufregung mit dem Maß der dargebotenen Desinformation. Was ist die Agenda der Alarmisten? Und warum fällt es vielen so schwer, das gefährliche Spiel der Alarmisten zu durchschauen?
Biografische Verstrickung und das Gefühl der Ohnmacht
Zunächst gilt es festzuhalten, dass die Debattenlage zum Thema merkwürdig uneinheitlich ist. Hans-Werner Sinn hatte das Thema als erster in die Öffentlichkeit gebracht und skandalisiert. Seit seinen ersten Veröffentlichungen zum Thema hat er eine Reihe von Fehlbehauptungen sowohl zur Abwicklung des Zahlungsverkehrs zwischen amerikanischen Bundesstaaten als auch zum transnationalen Zahlungsverkehr im Eurobereich korrigiert. Seine beiden zentralen Fehler, Zahlungsverkehr und kreditbasierte Liquiditätsbereitstellung zu vermischen und den Unterschied zwischen Krediten zwischen Geschäftsbanken und Privaten auf der einen Seite und der mit unausgeglichenen Leistungsbilanzen einhergehenden Auslandsverschuldung (Vgl. hierzu) auf der anderen Seite, hat er bis heute nicht korrigiert. Prof. Sinn scheint ein Thema für den Rest seines Lebens gefunden zu haben, es ist zu seinem Geschäftsmodell geworden. Diese biografische Verstrickung mag nicht gerade lernförderlich sein. Bei einem Publikum, dass sich vor der geistigen Durchdringung der Thematik aus vermeintlichem Selbstschutz zurückzieht, sind Sinns Botschaften auf emotionaler Ebene höchst gefährlich. Das Gefühl der Ohnmacht gehört zu dem Unangenehmsten, was Menschen fühlen können. Was von Sinns Botschaft beim großen Publikum hängen bleibt: „Die nehmen uns aus, und wir können uns noch nicht einmal dagegen wehren!“
Merkwürdige Ruhe der Politiker
Zur Charakterisierung der Debattenlage gehört es, dass dem Alarmgeheule in den deutschen Medien eine merkwürdige Ruhe bei denen gegenübersteht, in deren Händen die Wahrung der deutschen Interessen liegt. Was macht unsere deutschen, die Staatsämter bekleidenden Politiker so unfähig, laut und deutlich zu erklären, entweder dass es sich um einen unverantwortlichen Fehlalarm handelt, oder dass Deutschland in der Tat Gefahr läuft, ernste wirtschaftliche Schäden auf sich zu laden, und wir deshalb folgende Maßnahmen … ergreifen müssen? Wo sind die Arbeitgeberverbände oder die Gewerkschaften, die für Klärung sorgen und gegebenenfalls Handlungsvorschläge machen?
Laue Antwort der Regierung
Die deutsche Regierung hat jüngst eine kleine Anfrage der AfD-Fraktion windelweich beantwortet und hat sich inhaltlich an die Verlautbarungen der Bundesbank angelehnt. Die Anfrage bietet einige „alternative Fakten“, schlicht Falschdarstellungen, und malt die Gefahr eines deutschen Staatsbankrotts an die Wand. Im AfD-Text klingt es so, als wäre der italienische Staat direkt bei der Bundesbank verschuldet. Es wird zudem behauptet, die Bundesbank besitze Forderungen gegenüber den Handlungspartnern im Euroraum. Die Bundesregierung antwortet richtigerweise, aber recht schlicht, dass in TARGET2 keine Liquidität geschaffen wird und dass es sich bei den Salden nicht um Kreditgeschäfte oder Finanzhilfen aus öffentlichen Haushalten handele und nennt die Targetsalden „systeminterne Verrechnungssalden“. Abschließend wartet sie mit der Weisheit auf, dass die Summe der Salden gleich null sei. Ende der Durchsage. Hauptsache, wir kommen zu keinen Ursachen und fragen uns nicht, was schiefläuft, und sich in solchen Salden zeigt, wer was in welchem Land unternommen hat, dass solche Salden in dieser Höhe anwachsen konnten. Auch die Bundesbank – in Gestalt eines Gastbeitrages eines Mitglieds ihres Vorstands – spült weich: „Wenn der Euro unverändert fortbesteht, ist Target kein Risiko.“ Der Zynismus liegt darin, dass Italien so nicht weiterkann, dass aber darüber und über die Gründe dafür die Decke des Schweigens gelegt wird. Immerhin können wir froh sein, wenn von der Bundesbank kein offenes Italien-Bashing betrieben wird. Obwohl auch das am Ende des Beitrags noch durchschimmert, wenn, worauf im Artikel von Flassbeck/Nanninga hingewiesen wird, für Italien die übliche, aber verderbliche, weil binnenmarktzerstörerische Medizin empfohlen wird.
Wettet Thomas Mayer auf das Platzen des Euro?
Die Funkstille bei der Regierung und den großen Verbänden der Wirtschaft gibt den Alarmisten umso mehr Möglichkeiten Gehör zu finden. Was treibt sie an, abgesehen von der Chance, sich persönlich in Szene zu setzen? Nehmen wir als Paradebeispiel den ehemaligen Chefvolkswirt der Deutschen Bank Thomas Mayer, der sein Pamphlet „Ein Wahnsinn namens Target 2“ in der FAZ veröffentlicht hat. Mayer stellt das Target2-Zahlungsinstrument diskussionslos als unbesicherten, zeitlich nicht limitierten und unverzinsten Zwangskredit der Bundesbank an die EZB und über die EZB vermittelt an die Südstaaten des Euroraumes dar, die mithilfe dieses Kredits ihr Leistungsbilanzdefizit finanziert erhalten. So alles schon bei Sinn gelesen, und bei diesem wie bei jenem gleich falsch und irreführend.
Einerseits wird hier eine geldtheoretische Trivialität mitgeteilt, wie man sich leicht an folgender Parallele klarmachen kann. Jeder, der von einem anderen Bargeld annimmt, wird von diesem anderen in die Position eines unfreiwilligen Kreditors ohne Zins gegenüber der Bundesbank gezwungen, denn die Bundesbank verbucht das Bargeld als Verbindlichkeit. Wenn ein Schuldner durch Zahlung seine Schuld tilgt, freut sich der Zahlungsempfänger jedoch, weil die Forderung gegen die Bundesbank liquider ist als die Forderung gegen den Schuldner. Die Bundesbank „erhält“ im Target-Zahlungsverkehr Forderungen gegen die EZB. Zweck dieser Forderung ist lediglich, es der Bundesbank bilanziell zu ermöglichen, einer deutschen Geschäftsbank ZB-Geld gutzuschreiben, um der ihrerseits zu ermöglichen, eine Gutschrift auf einem Kundenkonto zu tätigen.
Andererseits wird von Mayer ebenso wie von Sinn nicht auf den korrekten Hinweis der Bundesbank eingegangen, dass TARGET2 die Liquidität des ausländischen Zahlers voraussetzt und keinesfalls durch das TARGET2-System erst herstellt. Haben wir von Sinn und Mayer schon eine scharfe Kritik daran gehört, dass Deutschland durch in Dollar abgerechnete Exportgeschäfte deutscher Firmen zu einem Zwangskredit gegenüber dem Ausland genötigt würde und dass das Ausland sich auf diesem Wege den negativen Leistungsbilanzsaldo von Deutschland finanzieren lasse? Aber auch hier gilt: Die Dollarbeträge, mit denen die ausländischen Auftraggeber deutscher Exporte zahlen, sind nicht in der Maschinerie des internationalen Zahlungsverkehrs entstanden. Die Auftraggeber mussten sich vor Zahlung in den Stand ausreichender Dollarliquidität gesetzt haben, ob durch Bankkredite oder durch Erlöse aus ihrer Geschäftstätigkeit spielt keine Rolle.
Sinn fabuliert von Fungibilität
Sinn nennt als entscheidenden Unterschied im Vergleich TARGET2-Forderungen der Bundesbank und Devisenbestände z. B. in Dollar bei der Bundesbank eine angeblich höhere Fungibilität, also Austauschbarkeit in irgendetwas anderes. Heute würde die Bundesbank nur mit Buchforderungen abgespeist, früher hätte sie die Devisen in „fungiblere Vermögensgegenstände“ eintauschen können. Was weltweit fungibler sein soll als der Dollar, verrät Sinn allerdings nicht. Zentralbanken tauschen üblicherweise Fremdwährungsbestände von Reservewährungen in Anleihen des die Währung emittierenden Staates ein, die ein bisschen Zinsen bringen, dafür aber auch ein bisschen weniger fungibel sind. Devisenbestände in einer internationalen Reservewährung sind nützlich, wenn der Staat seine Währung gegen Abwertung verteidigen will: Er kann dann an den Devisenmärkten die eigene Währung aufkaufen. Im umgekehrten Fall, bei Aufwertungsdruck, spielen die Devisenbestände nur die bilanzielle Rolle, die Gegenbuchung zum entsprechend geschöpften Zentralbankgeld zu sein.
Leistungsbilanzüberschüsse im Windschatten des für Deutschland unterbewerteten Euro
Mit den TARGET2-Forderungen der Bundesbank gegenüber der EZB ist es im Prinzip nicht anders: Der „deutsche“ Euro ist real unterbewertet, mit separater, eigener Währung müsste Deutschland aufwerten. In diesem Fall ist es nicht der Dollar als Devisenreserve, der die Gegenbuchung zu dem den Geschäftsbanken zugeflossenen ZB-Geld darstellt, sondern die Target-Forderung. Dahinter steht aber das zentralbankfähige Wertpapier, dass die ZB-Geldschöpfung bei einer anderen Filiale des Eurosystems ermöglichte. Mit dem Überhang von EZB-Forderungen kann und braucht die Bundesbank nichts anfangen, ebenso wenig wie mit Dollarreserven bei Aufwertungsdruck. Sollten die Deutschen dereinst auf die Idee kommen, anstelle von Forderungen echte Leistungen für Exporte aus dem Ausland zu beziehen und anfangen, den Leitungsbilanzüberschuss abzubauen, dann werden EZB-Forderungen oder Devisenbestände sinken.
Sinn stößt nicht zu den Ursachen vor
Wäre Hans-Werner Sinn ein ernstzunehmender Ökonom, würde er nicht nur die Alarmglocke wegen der TARGET2-Salden schlagen, sondern weiter fragen, welche ökonomischen Gründe zu dem exorbitanten deutschen Leistungsbilanzüberschuss geführt haben und Empfehlungen für seine Rückführung ausarbeiten. Als Grund für das Anschwellen der Salden fällt ihm aber nur das Vorhandensein des Instrumentes des Zahlungsverkehrs zwischen den Euroländern ein, das er bildlich zur goldenen Scheckkarte erklärt. Mit anderen Worten: Die Deutschen sind dumm, und die anderen sind frech und schamlos. Eine ökonomische Analyse hätte aber zu klären, wie es zu den Wettbewerbsdifferenzen zwischen den Euroländern gekommen ist, ohne in die billige und den Überschuss nicht erklärende Selbstbeweihräucherung zu verfallen, die Deutschen seien fleißig und stellten begehrte Produkte her.
Mit Risikoaufschlägen die Südländer in den Euroaustritt treiben
Sinn und Mayer bieten auch Vorschläge an, wie Deutschland sich dem von ihnen diagnostizierten Problem, von anderen ausgebeutet und Risiken aufgebürdet zu erhalten, erwehren könnte oder sollte. Beide verweisen auf das US-Amerikanische System, auf das ich weiter unten noch kommen werde. Mayer z. B. schlägt folgendes vor: Er verlangt, dass die Kapitalmärkte die Risikoaufschläge für die Staatsanleihen bestimmen und dass die „Zentralbanken die unter ihrer Aufsicht stehenden Banken veranlassen, die Risikoaufschläge auf ihre Kredit- und Einlagenzinsen zu erhöhen.“ Auf diese Weise würden die Kapitalmärkte der Euro-Süd-Staaten für die Anleger wieder interessant. Mit anderen Worten: Die QE-Politik der EZB muss gestoppt und rückabgewickelt werden, die Eurokrise muss wiederbelebt werden und die unter dem Anwachsen der Zinslasten leidenden Euro-Süd-Länder müssten freiwillig den Griechenlandweg gehen. Das von Mayer vorgeschlagene Programm würde auf einen Schlag alle Südbanken, die Anleihen ihrer Staaten in der Bilanz führen in eine existenzbedrohende Schieflage bringen, weil der Kurs ihrer Papiere an den Handelsplätzen sofort sinken würde. Ein Programm, den Euro schnellstens zum Platzen zu bringen! Was motiviert einen Mann, der unter dem Artikel preisgibt, „Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Instute“ zu sein, zu einem solchen hanebüchenen Programm? Will jemand in den Zockerbuden der Finanzindustrie mit Wetten auf das Platzen des Euros Kasse machen?
Ist der Euro wirklich gewollt?
Die Debatte wird von den Target-Alarmisten so geführt, als hätten wir uns noch gar nicht dafür entschieden, eine gemeinsame Währung zu haben. Mit dem Willen, eine gemeinsame Währung zu haben, wäre es selbstverständlich, dass die gemeinsame Zentralbank die entscheidende Instanz ist, und dafür zu sorgen hat, dass die Zinsen weder für Staatsanleihen noch für die private Wirtschaft auseinander laufen und dass im gesamten Euroraum der Zahlungsverkehr gesichert ist, dass zwischen einem deutschen und einem portugiesischen Euro kein Unterschied besteht. Die EZB hat mit ihrer QE-Politik den Crash des Euros hinausgeschoben, indem sie tat, was eine Zentralbank für ihren Verantwortungsbereich zu tun hat: Den Haltern von Staatsanleihen die Sicherheit zurückzugeben und die Kreditzinsen auf ein wirtschaftlich adäquates Maß zurückzuführen. Und darin war sie im Ganzen erfolgreich – aber, wie die Beispiele Zypern und Griechenland zeigen, beschämend inkonsequent.
Die falsche Fassade begünstigt das Mißverständnis
Nicht entschuldigend, sondern erklärend kann man festhalten, dass die Architektur des Zentralbanksystems des Euros Missverständnisse, Fehlalarme und die Äußerung irrwitziger Vorschläge begünstigt. Es gibt nationale Zentralbanken in den unterschiedlichen überkommenen Rechtsformen, die aber, bei Lichte besehen, was Aufgaben und Entscheidungskompetenzen betrifft, lediglich Filialen der EZB vor Ort sind. Im Euro-System mag das aber offensichtlich niemand so aussprechen. Das System ist so angelegt, dass es auf ein Auseinanderfallen der Eurozone vorbereitet scheint. Die Goldschätze sind nicht der EZB übertragen worden, der Ankauf der Staatsanleihen ist so organisiert, dass die Staatsanleihen der jeweiligen Staaten in ihren nationalen ZB-Bilanzen ausgewiesen sind. Und schließlich die TARGET2-Salden, verbucht als nie auszugleichende Forderungen und Verbindlichkeiten, ohne selbst Zentralbankgeld oder Zentralbankgeld der „zweiten Stufe“ oder überhaupt Geld zu sein: Niemand zahlt damit und niemand muss sich deshalb in diesem vermeintlichen Geld zahlungsfähig machen. All das begünstigt Fehlinterpretationen und Fehlerwartungen und belastet auch die Arbeit der einen gemeinsamen Zentralbank für den einen, gemeinsamen Währungsraum.
Jährlicher Saldenausgleich als Lösung?
Ein weiteres Beispiel für Fehlverständnis und irreführendem Vorschlag liefert Mayer, wenn er einen jährlichen Saldenausgleich fordert und sagt, es „…sollten die Zentralbanken der Eurostaaten mit Zahlungsbilanzdefiziten der EZB monatlich Reserven und Eigenkapital in Höhe des Defizits verpfänden.“ All das wäre nur ein simpler buchungstechnischer Vorgang: Die von der italienischen Zentralbank zur Schöpfung von Zentralbankgeld auf die eigene Bilanz genommenen Wertpapiere würden von der italienischen Filiale an die deutsche Filiale, die Bundesbank, überstellt, die im Austausch das in Italien geschöpfte und nach Deutschland geflossene Zentralbankgeld als Gegenbuchung nicht mehr den EZB-Forderungen, sondern den zugeführten Wertpapieren gegenüberstellt. Der TARGET2-Saldo würde dahinschmelzen, wir hätten einen Aktiv-Tausch in der Bundesbankbilanz – per Wertpapiere an TARGET2 – und in der Bilanz der italienischen Filiale eine Bilanzverkürzung, TARGET2-Verbindlichkeiten würden ausgebucht („vernichtet“) ebenso wie die Wertpapiere – per TARGET2-Verbindlichkeit an Wertpapiere.
Warum nicht gleich den Gemanexit?
An der Vermehrung der Zentralbankgeld-Liquidität in Deutschland letztlich aufgrund der Monetisierung italienischer Wertpapiere würde sich nichts ändern. Dass damit für niemanden etwas gewonnen ist, ist offensichtlich. Unsere Alarmisten werden auch sofort aufschreien und fordern, dass die der Bundesbank oder der EZB zu übereignenden Sicherheiten wirklich werthaltig seien müssten, die Papiere also nicht mit dem Nominalwert, sondern mit einem risikokompensierenden Abschlag zu überstellen seien. Damit hätten wir sofort wieder das Programm, um den Euro zum Platzen zu bringen. Warum diese Umwege und nicht gleich die Forderung nach einem sofortigen Germanexit?
Das US-System als Vorbild?
Mayer hat mit seinen Vorschlägen etwas formuliert, das Parallelen zum Verrechnungssystem für Zahlungen in den USA über die Grenzen der Bundesstaaten hinweg zu haben scheint. Das US-Pendant zu TARGET2 heißt Fedwire und kennt Saldenausgleiche zwischen den 12 Distriktbanken in unterschiedlichen Bundesstaaten. Darüber wacht eine Behörde, das Federal Reserve Board, es trifft geldpolitische Entscheidungen, tätigt im Gegensatz zur EZB aber keine Bankgeschäfte. Hans-Werner Sinn hatte zusammen mit Timo Wollmershäuser schon mit dem Start ihrer TARGET2-Kampagne das US-System als Vorbild angepriesen. Gerald Braunberger hat kürzlich dankenswerterweise durch Zusammenstellung der verstreuten Informationen zum US-System in seinem Wirtschaftsblog Fazit bei der FAZ den Träumen von Sinn, Wollmershäuser und Mayer die Grundlage entzogen. Braunberger zitiert den Wirtschaftshistorikers Barry Eichengreen :
„Die Praxis des täglichen Saldenausgleichs war mehr Schein als Realität. In der Praxis führten Liquiditätsprobleme und Bankruns in einem Distrikt der Federal Reserve zu einer Ausweitung der gemeinsamen Unterstützung durch andere Distriktbanken. Die Distriktbanken vergemeinschafteten ihre Goldreserven in Notfällen…Die Goldbewegungen zwischen diesen Distrikten in Notzeiten waren in ihrem Geist den Liquiditätsbewegungen zwischen ‚Kern-‚ und Peripherieländern im Target-2-System sehr ähnlich.“
Braunberger resümiert:
„Um es klar zu sagen: Das amerikanische Modell hat in der Zwischenkriegszeit funktioniert, weil es gerade in Krisen keinen Ausgleich der Salden, dafür aber de facto Elemente einer Haftungsunion gab. Die Amerikaner hatten schon immer verstanden, dass der Sinn eines Zahlungsverkehrssystem darin besteht, jederzeit einen störungsfreien Zahlungsverkehr zu gewährleisten – während in unserer Zeit Ökonomen in Deutschland nach Wegen suchen, wie man im Euro-Zahlungsverkehrssystem den Zahlungsverkehr beschränken kann.“
Soll der Weg zum „geregelten Staatsbankrott“ freigehalten werden?
Bis auf einen Punkt will ich nicht weiter auf das US-System eingehen. Man kann es in Braunbergers Blog nachlesen. Im Gegensatz zum Eurosystem, in dem die nationalen Zentralbanken den Wertpapierkauf tätigen, ist es in den USA ausschließlich die New Yorker Distriktbank. Die ausschließlich von ihr erworbenen Aktiva befinden sich in einem Pool, aus dem heraus Zuweisungen an die Distriktbanken nach wirtschaftlichen Kennziffern getätigt werden. (In Deutschland würde man just diesen Pool nicht wollen und sich weiter der Illusion hingeben, die Bilanzierung der Staatspapiere in der jeweiligen nationalen Zentralbank würde das deutsche Risiko verringern und womöglich den Weg zum „geregelten Staatsbankrott“ freihalten. Vgl. H. Flassbeck hier)
Welche Bedeutung haben die Anleiheankäufe?
Ich erwähne diese auch von Braunberger dargestellte Spezialität des Fedwire-Systems, weil im Eurosystem das Ankaufprogramm der EZB in Konkurrenz zu den Leistungsbilanzdefiziten gegenwärtig von vielen Stimmen, auch von der Bundesbank, quasi entschuldigend für das Anschwellen z. B. der italienischen Target-Verbindlichkeiten verantwortlich gemacht wird. Der technische Grund liegt darin, dass die die italienischen Staatsanleihen verkaufenden Agenten des Kapitalmarktes ihre Bankverbindung in Frankfurt haben und deshalb das Zentralbankgeld, mit dem der Ankauf bezahlt wird, von Italien nach Frankfurt fließt. Merkwürdigerweise vergessen alle diese Stimmen, dass mit diesem ZB-Geld-Fluss von Italien nach Deutschland nur ein vorgängiger entgegengesetzter Fluss kompensiert wird. Denn schließlich ist durch den vorgängigen Verkauf der Anleihen von Italien aus nach Frankfurt ZB-Geld nach Italien geflossen und hatte den negativen TARGET2-Saldo Italiens reduziert. Sollte damit der Problematisierung des deutschen Leistungsbilanzüberschusses Treibstoff entzogen werden, ist der Versuch daneben gegangen.
Dem Zahlungsverkehr ist die Veranlassung nicht anzusehen.
Auf jeden Fall ist es ein diffiziles Geschäft, die Anteile der einzelnen Gründe für das Anwachsen der TARGET2-Salden zu beziffern. Den Zahlungen selbst ist es nicht anzusehen, weshalb sie erfolgten. Italien hat inzwischen wieder ein nahezu bei null liegendes Nettoauslandsvermögen, ist also per saldo dem Ausland gegenüber kaum verschuldet und erwirtschaftet inzwischen wieder einen Leistungsbilanzüberschuss. Das schließt eine italienische Verschuldung Deutschland gegenüber, die sich auch in den TARGET2-Salden spiegeln kann, nicht aus. Fluchtgelder werden auch immer wieder genannt, zu denen man auch Gelder aus illegalen Quellen zählen kann, die in Deutschland gewaschen werden sollen.
Deutschlands gefährdete Position
„Kapitalflucht“, motiviert von der Furcht vor einem Euro-Crash, ist als Entzug des Vertrauens ein Symptom für eine schwerwiegende Erkrankung des Systems. Die breite Diskussion des deutschen Anteils an den Verhältnissen im Euroland müsste auf der Tagesordnung ganz oben stehen, schon aus eigenem deutschen Interesse. Dass das deutsche Wirtschaftsmodell mit seiner durch Lohn- und Sozialdumping erreichten Wettbewerbsstärke im Windschatten des für Deutschland zu niedrig bewerteten Euro nicht dauerhafte Stärke, sondern besonders hohe Gefährdung bedeutet, haben nur wenige in Deutschland verstanden. Noch ist Deutschland in Europa der wirtschaftliche Hegemon. Diese Position ist aber umso gefährdeter und für Deutschland selbst gefährlich, je schlechter es denen geht, denen wir unsere Austeritätspolitik aufzwingen. Sollte der Euro platzen, ist der Neubewertungsbedarf der Sicherheiten in den Zentralbanken bzw. der anteilig zu tragende Verlust der Bundesbank bei der Euroauflösung das geringste Problem. Die Bundesbank wird längere Zeit ein negatives Eigenkapital ausweisen. Zu Steuererhöhungen wird es wegen des negativen Eigenkapitals der Bundesbank nicht kommen, denn keine Regierung wird lange im Amt bleiben können, die in der unausbleiblichen Wirtschaftskrise die Lage durch ein zusätzliches Sparprogramm verschärfen wird.
Am Selbstbild der überlegenen Stärke nagt langsam der Zweifel
Infolge der Auseinandersetzungen mit der Trump-Administration scheint einigen Politikern inzwischen zu dämmern, dass die Position des Exportweltmeisters mit gigantischen Überschüssen in der Leistungsbilanz nicht in jeder Hinsicht eine Position der Stärke darstellt. Verantwortlich handelnde Politiker würden das immer kleiner werdende Zeitfenster mit einer neuen Wirtschaftspolitik durch Belebung der Inlandsnachfrage und Infrastrukturprojekte dazu nutzen, den Schock zu vermeiden oder wenigstens zu dämpfen, der zwangsläufig eintritt, wenn sich der deutsche Exportüberschuss aufgrund von Zollschranken oder neuer, aufwertender D-Mark wieder auf ein Maß einpendeln wird, das wir vor dem Euro sahen. Deutschland hat diese Politiker nicht. Von einer nötigen Lernbereitschaft ist nichts zu spüren. Ist es vielleicht auch Angst, vor dem Volk eingestehen zu müssen, dass die Idee des ausgeglichenen Staatshaushaltes ein grandioser Irrtum war?
Vom Autor sind auf folgender Website zum Thema TARGET2 mehrere Artikel erschienen.
Ich habe noch einen weiteren interessanten Artikel von Gerald Braunberger im Wirtschaftsblog bei der FAZ zum Thema Target2 gesehen, der vielleicht noch nicht so bekannt ist, und zwar hier http://blogs.faz.net/fazit/2018/07/03/das-anleihekaufprogramm-der-ezb-treibt-den-target-2-saldo-10130/
wobei die für mich interessanteste Passage war:
„Seit Jahren finden Diskussionen über die Werthaltigkeit von Target-2-Forderungen statt. Mit Debatten über einen Austritt Italiens haben sie Nahrung erhalten. Nach einem populären Irrtum müssten die Forderungen der Bundesbank nach einem Euroaustritt Italiens um mehrere hundert Milliarden Euro wertberichtigt werden. Dies ist unzutreffend; die Bundesbank hat aus Target-2 keine direkte Forderung gegen Italien. Es gilt das Prinzip: Target-2-Forderungen bestehen gegenüber der EZB und sind für die Höhe der potentiellen Risiken aus Target-2-Verbindlichkeiten anderer Länder unerheblich. Da die Bundesbank die Forderungen gegen die EZB hält, setzte eine Wertberichtigung den Untergang der EZB voraus.1)“
sowie die zugehörige Fußnote dort:
„Dass aus den Bruttosalden für sich genommen keine Risiken entstehen, zeigt ein Gedankenexperiment. Wenn das Euro-System eine andere interne Neuorganisation seiner Aufgaben beschlossen hätte und Wertpapierkäufe sowie Zahlungen nicht mehr über nationale Zentralbanken, sondern alleine über die EZB im Frankfurter Ostend vorgenommen würden, hätte sich an der wirtschaftlichen Lage im Euroraum nichts geändert. Aber es gäbe keine nationalen Target-Salden! Vielmehr fänden sich alle Aktiva des Eurosystems und das von ihm geschaffene Geld komplett in der EZB-Bilanz. Und dann wäre offensichtlich, dass die Risiken nichts mit der Höhe der Bilanzsumme oder von Salden zu tun hätten, sondern alleine aus der Qualität der Aktiva entstammten. Die Risiken der Bundesbank (und damit Deutschlands) wären alleine aus ihrer Beteiligung an eventuellen Verlusten der EZB ableitbar.“
Ich hatte daraufhin schon angenommen, dass es gewisse „Top-Ökonomen“ zum Schluss doch noch geschafft haben, die Autorenschaft von Makroskop zu verwirren. Dann ist mir aber aufgefallen, dass hier doch kein Widerspruch bspw. zum Artikel „Target Salden und der Italexit“ besteht. Außer, dass die hier beschriebene Vorgehensweise anders ist, also: anstatt Wertpapiere entsprechend den Target-Salden zwischen den jeweiligen nationalen Notenbanken hin- und her zu schieben, wird im ersten Schritt die Gesamtbilanz der EZB und eventuelle Verluste dort betrachtet, und erst im zweiten Schritt geklärt, wer welche Verluste zu tragen hat. Wobei z.B. die Risiken aus ELA-Krediten sowieso bei der jeweiligen Zentralbank verbleiben, siehe PDF unten auf der Seite https://www.ecb.europa.eu/mopo/ela/html/index.en.html in dieser PDF auf S.1: „2.1 The main responsibility for the provision of ELA lies at the national level, with the NCBs concerned. 2.2 This means that any costs and risks arising from the provision of ELA are incurred by the NCB concerned (or by a third party acting as a guarantor).“
Immerhin gab es jetzt im August auch mal einen Kommentar dazu von offizieller Seite (Artikel ist vom 3. August, ich habe den Artikel aber jetzt erst gesehen)
Der Artikel erklärt keine technischen Hintergründe, weil man das offenbar für zu kompliziert hält. Und enthält sich auch jeglicher Kritik an der deutschen Politik. Aber immerhin wird hier gesagt, dass man nicht alles glauben sollte, was „einige deutsche Ökonomen“ schreiben …
https://www.diw.de/sixcms/detail.php?id=diw_01.c.595697.de)
Artikel vom 3. August 2018
DIW: Wie man aus einer Mücke einen Elefanten macht: Wieso das Target-System ein Anker der Stabilität für Deutschland und Europa ist
Von Christian Franz und Marcel Fratzscher (Leiter DIW)
oder auch als PDF zum Download:
https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.595699.de/diw_aktuell_15.pdf