ZWISCHEN DEN ZEITEN

HEINRICH SCHOLZ

O. PROF. DER MATHEMATISCHEN LOGIK UND GRUNDLAGENFORSCHUNG

A. D. UNIVERSITÄT MÜNSTER I. W.

1946

Vorrede

Die Wahrheitsliebe und was wir ihr schuldig sind, ist eines der unerschöpflichen großen Themen, zu denen immer wie­der einmal etwas gesagt werden muss, was eine Spur hinterlässt. Oder es ist überhaupt nicht der Mühe wert, dass die Wahrheitsliebe auf den Leuchter gestellt wird.

Ein Hochschullehrer im Raum der Grundlagenforschung wird nicht zu den Unberufenen gehören, wenn er, auf seine Art und in seiner Sprache, in dem angedeuteten Sinne etwas zu diesem Thema zu sagen hat.

Die Wahrheitsliebe hat ein Profil, das nicht nur für den For­scher existiert, sondern für jeden, der sich in einem verbind­lichen Sinne zu ihr bekennt. Hierzu kann niemand gezwungen werden. Aber erreicht werden kann er auch dann; denn er kann vor die Frage gestellt werden, ob er sich der Wahrheits­liebe in diesem Sinne überhaupt verpflichtet fühlt oder nicht, und er kann eingeladen werden, mit der Ruhe des Gemüts, die einer edlen Sache würdig ist, zu hören, was er sich im Sinn der folgenden Fragmente muss abringen können, wenn er sich für die Wahrheitsliebe entscheidet. Er kann eingeladen werden, dies anzuhören: nicht wie eine Weisheit, die nichts neben sich duldet, was von ihr verschieden ist, aber auch nicht und erst recht nicht wie eine Sache, die ihn nichts angeht, sondern wie etwas, was ihn so treffen soll, wie ein Appell, der aus einem ehrlichen Ringen nach einer letzten Klarheit und aus einem eben so ehrlichen Kampf gegen alle Verdunkelungsübungen entspringt. Auch unter uns gibt es immer noch viele, die guten Willens sind. Für sie sind die folgenden Blätter bestimmt. Zu ihrer Ermutigung sind sie verfasst. Sie möchten auch unsere Jugend erreichen. Es ist zu wünschen, dass diese Jugend erfährt, wozu wir sie im Sinn dieser Fragmente heranziehen müssen, wenn wir ihr nichts wollen schuldig bleiben. Dies kann nur dann gelingen wollen, wenn diesem Appell nichts zustößt, was ihm nicht zustoßen darf. Ein Doppeltes wird in diesem Sinne erwartet werden müssen. Das erste ist dies, dass dieser Appell nicht in den ihm gänzlich fremden sensationellen Raum eines fußfälligen Sündenbekenntnisses gezerrt wird. Das zweite ist dies, dass er nicht ausgebeutet wird zu einem Verdammungsurteil, das wir, mit allem, was uns belastet, und auf eine unabweisliche Art, nicht verdient haben. Oder es wird nicht ausbleiben, dass alles das zusammenbricht, was hier mit dem ernstesten Bemühen hat aufgebaut werden sollen.

Nichts ist seltener in der Welt, der wir angehören, als die unverfälschte Wahrheitsliebe. Nichts ist höher zu halten als sie. Noch nie hat jemand sich dadurch entehrt, dass er der Wahrheit die Ehre gegeben hat.

Auch ein Volk kann nicht dadurch entehrt werden, dass es der Wahrheit die Ehre gibt. Das größte Volk ist nicht ausgenommen.

Nichts ist seltener als der Fall, dass jemand die Kritik an sich selber übt, die er der Wahrheit schuldig ist. Nichts sollte höher gehalten werden als jeder exemplarische Fall dieser Art.

Das Seltenste in der Welt ist ein Volk, das die Wahrheit so respektiert, dass es sich um der Wahrheit willen aufrafft zu einer Kritik an sich selbst. Hat es ein solches Volk überhaupt schon gegeben? Man wird niemanden widerlegen können, der es bestreitet. Man wird sich auf die Fälle zurückziehen müssen, in denen die Ehrlichsten diesen Mut gehabt haben.

Die meisten machen es sich so leicht, dass sie nicht einmal wissen, was sie tun. Sie dünken sich wer weiß wie groß, wenn sie, im Namen der Wahrheitsliebe, ein Volk verurteilen, dem sie selbst angehören, aber so, dass sie selbst und ihresgleichen ein für allemal unschuldig sind. Sie sollten etwas bescheidener werden. Sie sollten lieber gar nichts gesagt haben als etwas, was eigentlich nur gesagt ist, damit man sich selbst umso unangefochtener bespiegeln, umso höher bewerten kann.

Es ist ein Ding für sich um die Größenordnung der Forderung, die herantritt an ein Volk, wenn ihm zugemutet wird, dass es der Wahrheit die Ehre gibt. Die Ehre auch dann, wenn die angeforderte Wahrheitsliebe uns in den Anklagezustand versetzt. Die Größenordnung dieser Forderung ist überhaupt nicht gesehen worden oder von denen, die den Mut haben, sich mitzurechnen. Und mit diesem Mut den festen Willen, jeder Versuchung zu widerstehen, die den Effekt haben könnte, dass der fatale Anschein entsteht, als ob man selbst eigentlich doch zu den ganz anderen besseren Menschen gehört. Vielleicht gehört man wirklich zu ihnen. Dann hat man nur noch einen Grund mehr, so zu stehen, als ob man nicht zu ihnen gehörte. Dann wird man glaubwürdig sein von der Art, die zu fordern ist. Dann und nur dann.

 

Aber ist dies nicht eine Forderung, die unerträglich ist für das moralische Selbstgefühl? Wie kann man sich mitschuldig fühlen für etwas, was man nie gewollt hat? Und noch etwas mehr! Wie kann man sich mitschuldig fühlen für etwas, dem man, in den Grenzen, die man nicht hat abändern können, sich widersetzt hat auf jede mögliche Art?

Die Antwort liegt nicht so fern, wie es scheint. Man denke sich ein unüberwachtes Kind. Es spielt mit Streichhölzern, die durch eine Unachtsamkeit seiner Eltern in seine Hände gelangt sind. Es setzt eine Scheune in Brand mit der ganzen Ernte, die in ihr geborgen ist. Das haben die Eltern nicht gewollt. In keinem Falle. Sie haben es nicht einmal vorausgesehen. Dennoch werden wir die Eltern verantwortlich machen für den Schaden, der so entstanden ist. Wir werden sagen, dass sie für diesen Schaden haftbar sind, dass sie aufzukommen haben für ihn; denn dieser Schaden konnte verhütet werden, wenn die Eltern so achtsam gewesen wären, wie es von ihnen verlangt werden durfte.

Die Anwendung auf das Unheil, in das wir geraten sind, ergibt sich von selbst. Wir haften alle für dieses Unheil; denn es konnte vorausgesehen werden. Dies genügt. Es ist nicht notwendig, dass es auch in der Größenordnung, in der es uns überrannt hat, hätte vorausgesehen werden können; denn dies ist eine zu weit gehende Forderung. Es ist eine Forderung, die auf eine ehrliche Art zurückgewiesen werden kann. Aber ein großes Unheil konnte in jedem Falle vorausgesehen werden. Um so schlimmer für die, die es nicht haben kommen sehen. Und erst recht umso schlimmer für die, die es nicht haben sehen wollen!

Dieser Faden kann fortgesponnen werden. Man denke sich, dass wir den Krieg gewonnen hätten. Man prüfe sich auf Herz und Nieren. Man frage sich, ob man sich ausgeschlossen haben würde von den Effekten eines solchen gewonnenen Krieges auch in den Fällen, in denen sie uns, auf eine unvermeidliche Art, neue Lebens- und Wirkungsmöglichkeiten erschlossen haben würden. Was würde man in einem solchen Falle stattdessen getan haben? Man würde sich abgesetzt haben, auf eine mehr oder weniger entschiedene Art, von allem Verwerflichen, was vor diesem Kriege, und erst recht von allem Verwerflichen, was i n diesem Kriege geschehen ist, vielleicht auch im voraus von allem Verwerflichen, was nach einem solchen Kriege geschehen sein würde, und sich an das wenige Unverwerfliche um so fester geklammert haben. Das würde man im allgemeinen Falle getan haben, oder man sage uns, was man stattdessen getan haben würde. Und wenn man auch dies nicht getan hätte, so würde man nicht haben hindern können, dass man eingebettet war in ein Volk, in dem man sich, ohne Selbstüberhebung, immer noch zu den Besseren hätte rechnen dürfen, wenn man aus einem gewonnenen Kriege nicht mehr herausgeholt hätte als das, was diesen Besseren hier zugemutet worden ist. Oder man hätte auswandern müssen. Aber wohin? Und noch einmal: Wohin?

Und jetzt, wo alles verloren ist, und über jedes Vorgefühl, über jede böse Ahnung hinaus? Jetzt will man sich isolieren? Jetzt will man alles den andern zuschieben, was an Schlimmem und Schlimmstem geschehen ist? Es ist klar, dass hier etwas nicht stimmt.

Man denkt nicht profund oder man habe den Mut zu sagen, dass es eine Kollektiv-Verantwortlichkeit gibt, die nicht nur die eigentlich Schuldigen trifft, sondern auch die, die nie etwas gewollt haben von dem, was im schlimmsten Sinne geschehen ist, und auch die, die alles, was von dieser Art zu ihrer Kenntnis gelangt ist, auf das schärfste missbilligt haben, endlich auch die, die versucht haben, ihm entgegenzuwirken auf jede mögliche Art. Wir werden sie in jedem Falle von den eigentlich Schuldigen wohl unterscheiden, und erst recht von denen, die sich herauszulügen versucht haben, auf eine mehr oder weniger erbärmliche Art; aber von der Kollektiv-Verantwortlichkeit werden sie sich nicht ausschließen dürfen. In keinem Falle. Wenn nicht auf eine andere Art, so haften sie für den Charakter des Volkes, in das sie hineingeboren sind. Es ist unwidersprechlich, dass dieses Volk nicht die Kraft gehabt hat, eine dämonische Führung zum Verschwinden zu bringen, deren Charakter es in jedem Falle rechtzeitig hätte erkennen müssen.

Und ist nicht viel zu viel unter uns von der edlen Tugend des Gemeinsinns geredet worden? Jetzt oder nie ist der Zeitpunkt gekommen, dass man ihn durch seine Haltung beweise: „Einer trage des ändern Last.“

Ein Volk, in dessen Mitte Dinge geschehen sind, die sich nie hätten zutragen dürfen, kann nicht dadurch entehrt oder erniedrigt werden, dass Repräsentanten dieses Volkes den Mut haben, diese Dinge bei ihrem Namen zu nennen, und mit der Bereitschaft, alle Folgen mitzutragen, die sich daraus ergeben, dass diese Dinge dennoch geschehen sind.

Es ist noch etwas mehr zu fordern. Nichts ist verlockender als die Versuchung, auf den Effekt zu spekulieren, den ein solcher Mut in der Welt haben wird. Man sei standfest. Man widerstehe dieser Versuchung so, dass man ihr nicht erliegen kann. Gefordert wird die Wahrheitsliebe. Die Wahrheitsliebe für einen Fall, in dem sie ein Opfer verlangt. Ein Opfer im Raum des Selbstgefühls, das in einem gravierenden Falle von einer erdrückenden Größenordnung sein kann. Wer sich diesem Opfer entzieht, ist der Wahrheitsliebe schon untreu geworden. Sie ist getrübt. Sie ist verfälscht. Sie ist auf die Funktion eines Ornamentes beschränkt.

 

Folglich?

Aber die Folgerungen ziehe man selbst! Hier wird niemandem etwas vorgeschrieben, niemandem etwas aufgedrängt. Sehe jeder, wo er bleibe! Das einzige, was ihm nicht erspart werden soll, ist der Stachel, der die Selbstbesinnung hervorruft. Dieser Stachel soll niemandem erspart werden, der mit uns hindurchgegangen ist durch die Jahre, die niemandem können gefallen wollen, der unterrichtet ist über das, was in diesen Jahren geschehen ist.

„Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung“ ist das Ende gewesen in jedem Falle. Es ist unmöglich, dass wir uns dadurch entehren, dass wir bemerken, wie dieses Ende auf eine unerbittliche Art einen jeden von uns verklagt.

Es gibt Menschen, die sich dies sagen lassen; aber nur dann, wenn ein Bußprediger zu ihnen spricht. Man verkennt die Besinnung, die uns zugemutet wird, die wir uns selber abfordern sollten, bevor ein anderer sie erwartet von uns, wenn man den Aufruf zu dieser Besinnung nur dem Bußprediger zugesteht. Die Wahrheitsliebe ist ein mächtiges, großes Ding für sich. Sie bedarf keines Bußpredigers oder sie ist schon nicht mehr die Macht, die sie sein sollte für die Rechtschaffenen unter uns.

Es ist etwas Großes um den Ruf des Apostels: „Demütigt euch!“ Um eine Siriusweite ist er entfernt von dem Anruf: „Entehrt euch selbst!“ Gemeint ist: „Bekennt euch zu eurer besseren Seele, indem ihr, mit dem Mut, der euch abgefordert wird, die Dinge bei ihrem Namen nennt, durch die eure bessere Seele entehrt worden ist“. Es wird nicht bestritten, dass auch dies noch so schwer ist, dass es nicht jedem bei einem ersten Versuch, manchem überhaupt nicht gelingen wird. Aber unmöglich ist es in keinem Falle. Und es ist eine Anforderung von der Art, die einer letzten Mühe wert ist.

Man kann es noch etwas drastischer sagen, und in einer weltlichen Sprache. Eine Nation, die nicht alles an ihre Ehre setzt, ist fatal. Der Dichter der „Jungfrau von Orleans“ hat sie sogar als „nichtswürdig“ bezeichnet. Die kanonische Interpretation dieses Satzes fordert die Revanche für jede Niederlage, durch die das mehr oder weniger empfindliche nationale Selbstgefühl gedemütigt worden ist. Es ist notwendig, dass gesagt wird, dass dieser so viel berufene Satz noch eine ganz andere Auslegung zulässt. „Nichtswürdig ist eine Nation, die nicht alles an ihre Ehre setzt, auch dann, wenn die Herstellung dieser Ehre durch die mühevollste Selbstkritik hindurchgeführt werden muss, um ehrlich und probehaltig zu sein“. Man überdenke diese Interpretation. Man habe den Mut, die Konsequenzen aus ihr zu ziehen, denen wir nicht werden ausweichen können, wenn wir wieder hochkommen wollen.

 

Oder ist auch die Wahrheitsliebe schon mehr als ein Grundton im Ethos eines unverdorbenen natürlichen Menschen? Die Wahrheitsliebe auf der Stufe der angeforderten Reinheit und Strenge?

Aber was könnte sie denn noch sein, wenn sie nicht dieser Grundton ist? Ein Geschenk? Nun wohl! Aber wie sollte, wie könnte sie das sein? Die Antwort liegt nicht so weit ab, wie es scheint.

Wie, wenn die Wahrheitsliebe, auf der angeforderten Stufe, ein Geschenk der Gnade wäre? Um überhaupt ein Geschenk zu sein, wird sie nicht etwas Geringeres sein dürfen.

Aber was ist Gnade in diesem Falle? Man weiß überhaupt nicht, was Gnade ist, oder man weiß, dass es Dinge gibt, die wir uns nur noch erbitten können. Oder man weiß, dass es Dinge gibt, die würdig sind, dass wir sie für uns erbitten. Erbitten mit einer letzten Zusammenfassung dessen, was unsere bessere Seele vermag.

Es gibt sehr ernst zu nehmende Menschen, die die Wahrheitsliebe, auf der Stufe der angeforderten Reinheit und Strenge, im Raum dieser letzten Dinge sehen. Ob man selbst zu ihnen gehört oder nicht, ist eine Frage, die jeder für sich zu entscheiden hat und nur für sich selber entscheiden kann. Hier tritt kein anderer für ihn ein. Die Entscheidung hängt davon ab, was für ein Mensch man ist. Aber zu wissen, dass es Menschen gibt, und noch einmal: sehr ernst zu nehmende Menschen, die die Wahrheitsliebe, auf der angeforderten Stufe, so sehen, ist in jedem Falle der Mühe wert.

Alles makellos Reine sendet eine Strahlung aus, die immer wieder einmal den Eindruck des Transzendenten hervorrufen wird. Man halte diesen Eindruck hoch! Man hüte sich, ihn abzutreten an irgendwen, der es gern etwas billiger hätte.

Wir sprechen von einer heiligen Wahrheitsliebe. Wir sprechen nicht ohne Grund von ihr. Wenn wir dies nicht schon vorher gewusst hätten, so hätten wir es hinzulernen müssen in den Jahren, durch die wir hindurchgegangen sind. Oder wir würden etwas versäumt haben, was wir nicht hätten versäumen dürfen. In diesen Jahren hat es um jeden Preis nur einen heiligen Patriotismus gegeben. Auch um den Preis der Wahrheitsliebe. Auch um den Preis der entehrendsten Diffamierung dieser Wahrheitsliebe in jedem Falle, in welchem sie diesem Patriotismus entgegenstand oder entgegenzustehen schien.

Was jetzt von uns gefordert wird, was wir uns selber abfordern sollten, bevor ein anderer es erwartet von uns, ist der Mut, der mit der heiligen Wahrheitsliebe fest gegen jedes Blendwerk zusammensteht, auch gegen den unheiligen Patriotismus, der sie auf jede mögliche Art hat erwürgen wollen.

 

„Alles, was unsern Geist befreit, ohne uns Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich.“ Dies hat Goethe gewusst, denn er hat es gesagt. Nietzsche hat es nicht gewusst; denn mit dem zunehmenden „Willen zur Macht“ hat er, auf eine verblüffende Art, die Herrschaft über sich selbst verloren.

Philosophen und Nicht-Philosophen haben, in einem Wettbewerb, der einer edleren Sache würdig gewesen wäre, unter dem Schutz eines dämonischen Systems, vor dessen Bedienung sie nicht zurückgeschreckt sind, sich, mit oder ohne Berufung auf Nietzsche, in Fußtritten gegen das Christentum geübt. Sie werden sich korrigieren müssen. Sie haben die Ehre des deutschen Geistes verpfändet, um sich selbst in den Sattel zu setzen. Und in welch einen Sattel! Es wird finster um uns, wenn wir an diese Lehrmeister denken. Gesinnungen liegen weit ab von ihnen. Die Gesinnungen, die sie uns schuldig geblieben sind — man suche sie da, wo sie verfolgt worden sind, in der vordersten Reihe und immer wieder einmal mit den skrupellosesten Mitteln. Man suche sie — im Raum des Christentums.

Es liegt weit ab von allem, was der Ehre des deutschen Geistes dient, dass Nietzsche die Götzendiener nach sich gezogen hat, die sein tobendes Antichristentum nicht nur nachgeleiert, sondern auf jede mögliche Art noch zu übertrumpfen versucht haben. In den Abgrund haben sie uns gesteuert mit ihrem verblendeten Kriegsgeschrei.

Wie man auch zum Kriege stehe, es sollte nicht bestritten werden, dass auch der Krieg, wenn er einmal entfesselt ist, große Dinge hervorrufen kann. Heldentum ist Heldentum. Heldenmut ist Heldenmut. Jedes Volk, ob siegreich oder besiegt, ist es seinen Tapferen schuldig, dass ihnen nichts von der Ehre entzogen wird, deren der Tapfere würdig ist, es sei denn, dass er sich selbst entehrt hat durch schändliche Dinge, denen er nicht widerstanden hat. Aber nie wieder sollte es möglich sein, dass jemand unter uns sich ungestraft erdreistet, mit Nietzsche zu sagen, dass der Krieg mehr große Dinge getan hat als die Gottes-, die Menschen- und Nächstenliebe.

Wer Schaden an seiner Ehre genommen hat, muss es sich etwas kosten lassen. Oder er hat nicht den ernsten, den entschiedenen Willen, sie auf eine befestigte Art wiederherzustellen.

Wir werden den Popanz um Nietzsche abbauen müssen, abbauen müssen bis auf den Grund, wenn wir uns ehrlich wiederherstellen wollen.

 

Man wird den höchsten Standort gewonnen haben, der für eine leidenschaftslose Betrachtung des zusammengebrochenen Systems gefordert werden kann, wenn man es ansieht als den Versuch, mit allen, auch den skrupellosesten Mitteln ein neues Sparta, ein Sparta im Stil des Nietzsche’schen Übermenschen mit seinem Lärm und mit seinem Feuerwerk, gegen Athen und gegen alles Athenische zu setzen.

Schiller hat einmal als Professor in Jena eine Vorlesung gehalten über „die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon“. In dieser Vorlesung stößt man auf eine Beurteilung der Lykurgischen Schöpfung, die auf eine gemütsbewegende Art und auf einer Höhe, die nicht wird übertroffen werden können, alles Wesentliche hervorruft, was gegen den zusammengestürzten Versuch der gewaltsamen Konstituierung einer spartanischen Weltmacht   auf   den   Trümmern   des   deutschen   Geistes   zu sagen ist.

Es ist der Mühe wert, dass man ein paar Sätze zur Kenntnis nimmt, die dieser denkwürdigen Betrachtung angehören. Sie sind in den folgenden Fragmenten reproduziert.

„Eine einzige Tugend war es, die in Sparta mit Hintansetzung aller ändern geübt wurde: Vaterlandsliebe.“

„Diesem künstlichen Triebe wurden die natürlichsten, schönsten Gefühle der Menschheit zum Opfer gebracht.“

„Alle Wissenschaften wurden vernachlässigt, alles Auswärtige wurde ausgeschlossen. Dadurch wurden alle Kanäle gesperrt, wodurch einer Nation helle Begriffe zufließen.“

„Unerbittliche Gesetze mussten darüber wachen, dass keine Neuerung in das Uhrwerk des Staates griff, dass selbst der Fortschritt der Zeit an der Form der Gesetze nichts veränderte. Um diese lokale, diese temporäre Verfassung dauerhaft zu machen, musste man den Geist des Volkes auf derjenigen Stufe festhalten, worauf er bei ihrer Gründung gestanden“.

„Ein Staatsgesetz machte den Spartanern die Unmenschlichkeit gegen ihre Sklaven zur Pflicht. In diesen unglücklichen Schlachtopfern wurde die Menschheit beschimpft und misshandelt.“

„Die ganze Moralität wurde preisgegeben, um etwas zu erhalten, was doch nur als ein Mittel dieser Moralität einen Wert haben kann.“

„Hält man den Zweck, welchen Lykurgus sich vorsetzte, gegen den Zweck der Menschheit, so muss eine tiefe Missbilligung an die Stelle der Bewunderung treten, die uns der erste flüchtige Blick abgewonnen hat.“

„Was man zum Lobe des Lykurgus angeführt hat, dass Sparta nur so lange blühen würde, als es dem Buchstaben seines Gesetzes folgte, ist das Schlimmste, was von ihm gesagt werden konnte. Eben dadurch, dass es die Staatsform nicht verlassen durfte, die Lykurg ihm gegeben, ohne sich dem gänzlichen Untergang auszusetzen, dass es bleiben musste, was es war, dass es stehen musste, wo ein einziger Mann es hingeworfen, eben dadurch war Sparta ein unglücklicher Staat. Und kein traurigeres Geschenk hätte ihm sein Gesetzgeber machen können als die gerühmte ewige Dauer einer Verfassung, die seiner wahren Grosse und Glückseligkeit so sehr im Wege stand.“

Es wird erlaubt sein, an diese Fragmente noch eine Betrachtung anzuschließen, die uns zurückführt zu uns selbst. Man hat gesagt, dass in der Geschichte sich nichts wiederholt. Hier hat sich etwas wiederholt, und im dunkelsten Sinne. Der Endeffekt des Lykurgischen Sparta sind die Ruinen von Athen gewesen. Und der Endeffekt des überlykurgischen Sparta? Die Ruinen eines Athen, in das die herrlichen Schätze unserer höchsten geistigen und sittlichen Kultur als Bausteine eingegangen sind. Dieses Athen wieder aufzubauen, es neu aus den Trümmern hervorzurufen, in denen es versunken ist, ist des Schweißes der Edlen wert. Es ist ein Werk, das wie kein zweites die tief erschütterte Ehre des deutschen Geistes von neuem in zäher Arbeit befestigen wird.